Pazifistischer Verband kritisiert Waffenlieferungen an Kiew und fordert Friedensverhandlungen. Ein Gespräch mit Jürgen Grässlin
Interview: Henning von Stoltzenberg
[Foto] Sven Eckelkamp/IMAGO. Bundeswehr-Soldaten zwischen »Leopard«-Kampfpanzer und dazugehöriger Munition
Jürgen Grässlin ist Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e. V. (DFG-VK)
Sie kritisieren die Waffenlieferungen in die Ukraine. Was wird von seiten der Bundesregierung alles geliefert?
Mit einem Volumen von 2,2 Milliarden Euro war die Ukraine 2022 das Hauptempfängerland deutscher Kriegswaffen. Das seit Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffs gelieferte Waffenarsenal reicht von Handgranaten, Panzerfäusten und Maschinengewehren über Granatwerfer, »Stinger«-Flugabwehrraketen und MARS-Raketenwerfer bis hin zu »Panzerhaubitzen 2000«, »Gepard«-Flakpanzern und jüngst »Marder«-Schützenpanzern. Hinzu kommt Munition in unglaublicher Menge. Zudem drängen Waffenexportbefürworter unermüdlich auf die Lieferung von »Leopard 2«-Kampfpanzern.
Deutschland ist längst Kriegspartei geworden.
Welche militärischen Maßnahmen bezüglich der Ukraine gibt es zudem?
Wenn Slowenien im Ringtausch mit Deutschland seine T-72-Kampfpanzer in die Ukraine liefert, dann wissen die dortigen Streitkräfte diese Waffensysteme sowjetischer Bauart einzusetzen. Wenn aber jetzt schwere Waffen westlicher Bauart exportiert werden, dann müssen ukrainische Soldaten daran ausgebildet werden. Genau das passiert seitens der USA, Großbritanniens und Deutschlands.
Sie fordern die Ausweitung ziviler Hilfe. Was verstehen Sie darunter?
Die Logik der Kriegs muss endlich durchbrochen und dazu müssen sämtliche zivile Hilfsmaßnahmen genutzt werden. Aktuell zählen dazu die Lieferung von Kranken- oder Feuerwehrfahrzeugen, zudem Transporter und Material für den Wiederaufbau.
Friedensverhandlungen sollen nach Ihrer Vorstellung unter UN-Ägide stattfinden. Oft wird behauptet, es gäbe keinen Verhandlungswillen der Konfliktparteien. Wie ist Ihre Einschätzung?
Solange das Regime Putin die Anerkennung der völkerrechtswidrigen Annexion weiter Teile des Ostens und Südens der Ukraine zur Voraussetzung für Friedensverhandlungen macht, kann es diese nicht geben. Solange die Regierung Selenskij die Rückeroberung eines jeden Quadratmeters besetzten bzw. annektierten Landes als Voraussetzung benennt, kann es ebenfalls keine geben. Die Lösung läge in Friedensverhandlungen auf neutralem Boden ohne Vorbedingungen unter Leitung von UN-Generalsekretär António Guterres. Ziel müsste sein, Lösungen zu finden, wie etwa die Neutralität bestimmter Regionen der Ukraine unter UN-Schutz, mit Sicherheitsgarantien der USA und Russlands.
Die deutsche Außenministerin hat sich derweil in dieser Woche in Charkiw mit den Menschen vor Ort solidarisiert, aber auch weitere Waffenlieferungen gefordert.
Im ersten Moment dachte ich: Was für eine bewundernswerte Aktion. So wird der Blick der Weltgemeinschaft auf die dramatische Lage der ukrainischen Zivilbevölkerung gelenkt.
Und im zweiten Moment?
Da frage ich mich, warum Frau Baerbock im vergangenen Frühjahr nicht schon nach Nordsyrien und in den Nordirak geflogen ist, um vor Ort auf die dramatische Lage der kurdischen Zivilbevölkerung aufmerksam zu machen. Bei der alljährlich stattfindenden sogenannten Frühjahrsoffensive bombardiert die türkische Luftwaffe völkerrechtswidrig zivile und militärische Ziele. Bei der Besetzung der kurdischen Stadt Afrin wurden deutsche »Leopard 2«-Panzer eingesetzt.
Wie reagiert der Westen auf diese Kriege?
Alle westlichen Regierungen, auch die Bundesregierung, schauen trotz schwerster Menschenrechtsverletzungen beschämt weg. Denn die Türkei ist NATO-Mitglied. Wenn das Regime Erdogan im kommenden Frühjahr erneut todbringende Angriffe fliegt, dann sollte Frau Baerbock sich mit einem Vor-Ort-Besuch mit der kurdischen Zivilbevölkerung solidarisieren – das wäre glaubwürdige Friedenspolitik.
Zum Jahrestag des Kriegsbeginns gegen die Ukraine im Februar bereiten Sie Friedensaktionen vor. Was ist geplant?
Die DFG-VK unterstützt den Aufruf »Stoppt das Töten in der Ukraine – für Waffenstillstand und Verhandlungen!«. Darin benennen wir Russland als völkerrechtswidrigen Aggressor. Wir bekennen uns zu diplomatischen Initiativen, einem Waffenstillstand und Friedensverhandlungen. Am Aktionswochenende vom 24. bis 26. Februar werden bundesweit gewaltfreie Proteste stattfinden. https://www.jungewelt.de/artikel/442681.deutschland-ist-l%C3%A4ngst-kriegspartei.html